Nachhaltige Marktwirtschaft
Lineare Denkmuster wie "Ursache und Wirkung" herrschen vor in den meisten Wirtschaftstheorien. Wechselwirkungen (interactions), Rückkoppelungsschleifen (feedback loops) und Interdependenzen (gegenseitige Abhängigkeiten) werden weiterhin weitgehend vernachlässigt.
Wir sprechen seit 50 Jahren von den "Grenzen des (exponentiellen) Wachstums".
Warum verstehen die meisten Wirtschaftstheoretiker bis heute nicht die Kernaussagen des Buches "The limits to growth"?
Massenkonsum und Wirtschaftsgüter
Die gängigen Wirtschaftstheorien sehen den Massenkonsum und Investitionen in Wirtschaftsgüter als Zentrum ihrer Überlegungen. "Freie Güter" wie Sonne, Wind, Luft spielen (bisher) allenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenn man die freien Güter berücksichtigt, dann vielleicht unter dem Blickwinkel der etablierten Denkweisen.
Deshalb sind die meisten Bemühungen für Klimaschutz, Artenschutz, Umweltschutz bisher gescheitert. Wir debattieren viel zu sehr über die machbaren aber unwirksamen Anpassungsoptionen, anstatt uns auf die wirksamen Anpassungsoptionen zu konzentrieren.
Dabei verschaffen wir uns zwar kurzfristig ein gutes Gefühl, mittelfristig sagen wir uns dann aber: "Das bringt sowieso nichts". Darin liegt eine grundsätzliche Problematik. Eine breite Mehrheit ist mutmaßlich für Veränderung im wirtschaftlichen Handeln, aber letztlich handeln die Meisten doch nach den Prinzipien der etablierten Wirtschaftstheorien.
Wirtschaftstheorien von Neo-klassisch und Neo-liberal,von sozialistisch bis Postwachstum und "Green-washing"
Neoklassische, neoliberale, sozialistische, planwirtschaftliche und andere etablierte Wirtschaftstheorien basieren auf den Prinzipien EXPONENTIELLEN Wachstums für den wirtschaftlichen Erfolg.
Dabei stehen bei diesen Wirtschaftstheorien der Massenkonsum und Massenproduktion im Mittelpunkt. Dazu kommt eine weitgehend ungehemmte Globalisierung, die unabhängig agiert von politischen Systemen, sozialen Fragen und ökologischen Notwendigkeiten. Umrahmt werden diese Wirtschaftsformen von einer von Wirtschaftsgütern und „realen“ Investitionen „befreiten“ Finanz- und Geldwirtschaft.
In diesen Systemen ist es schwierig, Nachhaltigkeit als relevante Größe wirtschaftlichen Handelns zu etablieren. Außer den für das Klima und die Umwelt bisher unwirksamen politischen Schaueffekten wie z.B. CO2-Emissionshandel, "Green Deal Europa" mit Atomkraft und fossilem Gas haben große, skalierbare Umwälzungen kaum eine Chance in „besetzten“ Märkten. Die von Joseph Schumpeter und nach ihm von vielen Akteuren seit Jahrzehnten artikulierte „Schöpferische Zerstörung“ („creative destruction“) findet weitgehend leider nicht in den alten Wirtschaftsmärkten statt, sondern in kaum gebremstem Ausmaß weiter in der Destruktion von freien Gütern, was zu den sichtbaren und unsichtbaren Umweltzerstörungen, Artensterben, dem Klimawandel und zu sozialen Ungerechtigkeiten führt.
Post-Wachstumstheorien (De-Growth-Theorien) im Dutzendpack
Nun gibt es auf der anderen Seite aber eine kunterbunte Mischung von Postwachstumstheorien, die so vielfältig sind, wie das Alphabet lang ist.
Aus dem Zukunftsdossier "Alternative Wirtschafts- und Gesellschaftskonzepte" (von 2012) des österreichischen Lebensministeriums zitiere ich einige Begriffe:
Neue Formen der Wirtschaft und Gesellschaft, die auf Wachstum mit neuen Attributen setzen
Schlagwörter: Energie- und Ressourceneffizienz, Öko-Innovationen, Umwelttechnologien, Entkopplung, nachhaltige Entwicklung, Ökosystemdienstleistungen, Naturkapital-Ansatz, Umwelt- und Ressourcenökonomie, grünes Wachstum, nachhaltiges Wachstum, Green Economy
Neue Formen der Wirtschaft und Gesellschaft, die Wachstum als Problem thematisieren
und versuchen die Wachstumsabhängigkeit zu verringern
Schlagwörter: Grenzen des Wachstums, Postwachstumsgesellschaft, Postwachstumsökonomie, Steady State Economy, Degrowth-Bewegung, Suffizienz, Downsizing, Voluntary Simplicity, Ökologische Ökonomie
Neue Formen der Wirtschaft und Gesellschaft, die das Wohlbefinden
der Menschen ins Zentrum rücken
Schlagwörter: Das gute Leben, Buen Vivir, Wohlbefinden, Lebensqualität, menschliche Bedürfnisse, Capabilities-Ansatz, Suffizienz, Gemeinwohl-Ökonomie, solidarisch wirtschaften, Transition Towns
Neue Formen der Messung von Wohlstand und Fortschritt
Schlagwörter: Beyond GDP, Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, OECD „Measuring the Progress of Societies“, „Happy Life Initiative“, 5-Kapitalien-Ansatz, ökologische und soziale Indikatoren, Messung von Lebensqualität und -zufriedenheit, Umweltökonomische Gesamtrechnung
Warum gibt es keine allgemeingültigen differenzierten Definitionen von Nachhaltigkeit und Wachstum?
Wir haben bisher keine allgemeinverbindliche Definition von Nachhaltigkeit. Die alternativen Theoretiker haben bisher keine allgemeingültige Definition von „Postwachstum“.
Man redet von Wohlstand (Prosperität) für alle, Lebensqualität und Suffizienz (lat. sufficere: ausreichen, genügen) und will das mit „ohne Wachstum“ und mit „Solidarität“ erreichen.
Dabei sind sich die alternativen Theoretiker nicht mal einig, was mit Wachstum überhaupt gemeint ist. Weil man Wachstum mit Kapitalismus verbindet, sind manche Alternativen sogar auf dem Klassenkampftrip.
Darf es exponentielles Wachstum geben?
Fragen an die alternativen Denker:
Mit welchen Wachstumsraten wollen Sie die globale Energiewende weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien erreichen?
Mit welchen Wachstumsraten wollen Sie die Umweltverschmutzung durch Müll und Plastik an Land und in den Meeren weltweit reduzieren?
Mit welchen Wachstumsraten wollen Sie die hunderten anderen Problemfelder wie Wasserverbrauch, Wasserverschmutzung, Bodenverschmutzung, Bodenerosion, Artensterben, Hunger und Ernährung, medizinische Themen etc. lösen?
Wenn wir statt tausende Milliarden an Dollar / Euro in die Ressourcenbeschaffung von Öl, Gas, Kohle lenken, diese Gelder in Investitionen von Infrastrukturen für erneuerbare Energien, einschließlich Speicherung und „grüne“ Energieträger führen, haben wir auf der einen Seite eine deutliche Reduzierung des Bruttoinlandsprodukts bei der Energiebeschaffung und das spekulative Element von exzessiven Preisschwankungen reduziert, andererseits haben Menschen aber mehr Freiraum für andere Wünsche und Erfordernisse.
Die Grenzen des exponentiellen Wachstums klassischer Wirtschaftsweisen müssen da sein, wo die Ressourcen dieses Planeten endlich sind und/oder die Umweltzerstörung unangemessen ist. Das „Kalte Herz des Kapitalismus“ kennt aber solche Begrenzungen bisher nicht.
Dies sollte im Umkehrschluss aber nicht bedeuten, dass wir Wachstum in den für die Gesellschaften und der Ökologie nützlichen Bereichen unangemessen begrenzen und uns eine theoretische Postwachstumsgesellschaft denken.
Regressives Wachstum als Kompromisstheorie
Wäre ein Kompromiss für die klassischen Wirtschaftstheorien und die modernen Postwachstumstheorien vielleicht der Begriff „regressives Wachstum“?
„Regressives Wachstum" bedeutet in der Logik "rückschreitend, rückgreifend" und implementiert den Wechselwirkungsmechanismus von den Wirkungen zu den Ursachen.
Im juristischen Sinne würde dieser Wachstumsbegriff auch den Regress (Ersatzanspruch, Rückgriff auf den Schuldner) einschließen.
Als Maßstab für diesen Wachstumstheorieansatz bedarf es allgemein anerkannter Prinzipien. Ein Debattenentwurf ist die „Nachhaltige Marktwirtschaft“.
Dietmar Helmer, veröffentlicht am 2022-03-22
In der Mitte von Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten. (Albert Einstein)
Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorn herein ausgeschlossen erschien. (Albert Einstein)
Ist nachhaltige Marktwirtschaft möglich?
Die Frage eines dazwischen ist bereits falsch gestellt.
Sie sollte vielmehr heißen: Gibt es einen anderen Weg?
Im Rahmen der UNO-Konferenz in RIO im Jahre 1992 wurde der Weg als "Nachhaltige Entwicklung" definiert. Es sollen die ökonomischen, sozialen und ökologischen Belange so miteinander verbunden werden, dass die heutigen Generationen nicht zum Nachteil der nachfolgenden Generationen handeln. Die UNO-Deklaration von RIO ist wegweisend für diese Zusammenhänge.
Die sog. globalen Unternehmen denken an sich, besonders wegen der Vorgaben aus interessierten Kreisen der sog. Shareholder und Investmentberater. Da ist wenig Raum für soziale und ökologische Aspekte. Das kurzfristige Denken der getriebenen Manager von heute hat sicher nichts mit Nachhaltigkeit zu tun. Man glaubt, dass durch andauerndes Fusionieren zu immer größeren Konglomeraten, die Existenz der neu entstandenen Unternehmen sichergestellt werden kann.
Dadurch entstehende Monopolstrukturen dienen aber grundsätzlich nicht mehr gesellschaftlichen oder ökologischen Interessen. Letztlich wirken auch die entstehenden bürokratischen Strukturen ineffizient, sodass die Firmen relativ bald wieder neu strukturiert werden durch Teilverkäufe. Im Fachjargon redet man von Konzentration auf die Kernkompetenzen.
Diejenigen, die von den sozialen Systemen profitieren, betonen immer wieder, wie wichtig der Erhalt des Besitzstandes ist, ohne dass hierbei genügend reflektiert wird, dass ein "zu viel" heute, den Generationen von morgen die Möglichkeiten einschränkt, sich sozial zu verhalten. Wenn das Geld von morgen eben heute schon verbraucht ist und man die Schuldenberge weiter auftürmt, dann ist dies eine ebenso wenig nachhaltige Ausrichtung.
Ökologisches Denken im Spannungsfeld der Profitmaximierung von Unternehmen und überzogenen sozialen Ansprüchen der Bürger von heute hat trotz aller Bekenntnisse und Umfragen immer noch einen geringen Stellenwert in der breiten Bevölkerung.
Die aktuelle Angst um den Arbeitsplatz ist aus Sicht des Einzelnen sicher ein vorrangigeres Thema, als die Auswirkungen des Klimawandels in 50 Jahren.
Wenn Sie sich z.B. beim Kauf eines neuen Autos mit den neuen Technologien beschäftigen, werden Sie feststellen, dass Sie mehr Möglichkeiten haben, als Sie ahnen.
Voraussetzung ist einzig und allein, dass Sie Ihre Einstellung zum Thema Ökologie überprüfen. Sie müssen von "Öko" noch nicht einmal etwas halten und können sich trotzdem als ein "Öko" verhalten. Möglicherweise sogar intensiver, als jemand, der den ganzen Tag nur darüber redet, auf was die Anderen alles verzichten sollen.
Entscheidend ist die Änderung der Sichtweisen, dann handelt der Einzelne von ganz allein nachhaltig. Sie werden sich wundern, welche Möglichkeiten in Ihnen stecken.
Sonnige Grüße
Ihr Dietmar Helmer
Der Text stammt aus dem Jahr 2006.
Im Kapitalismus können Unternehmen so groß werden, dass sie sich zu Oligopolen entwickeln und "systemrelevant" zu sein scheinen. Während dieses Prozesses sind die Gewinne privatisiert. Da die betriebswirtschaftliche Sichtweise von Konzernen oft nicht auf Nachhaltigkeit ausgerichtet war und ist, werden am Ende ihres letztendlichen Scheiterns die Verluste sozialisiert.
Obwohl globale Unternehmen sich einer gegebenen Gesellschaftsordnung nicht (mehr) verantwortlich fühlen, wird deren Lobbyismus am Ende dennoch erreichen, dass es genügend Politiker gibt, die darauf hinwirken, das Versagen dieser Unternehmen zu sozialisieren.
Dietmar Helmer, im Dezember 2008